Text und Bilder: Matthias Kröling, 15.7.2023
Einhundert Meilen laufen.
Im Sommer.
Auf einer großen Runde.
Komplett markiert mit Sprühkreide und Flatterband.
Mit über 20 Verpflegungspunkten.
Klar, das alles gibt’s beim Mauerweglauf in Berlin.
Das gibt’s aber auch alles schon sechs Wochen vorher im Thüringer Wald. Genauer gesagt in Fröttstädt im Rahmen des thüringenULTRAs.
Noch nie davon gehört? Dann kann das daran liegen, dass dieser Lauf eine echte Rarität ist.
Zwar findet der thüringenULTRA über 100km jedes Jahr statt, in diesem Jahr bereits zum 15. Mal. Doch eine Austragung der 100 Meilen gibt es nur alle fünf Jahre, quasi immer als kleines Jubiläumsgeschenk. Verpasst man ein Jahr, muss man erst wieder fünf Jahre warten. Wenn alles klappt. Wenn Corona dazwischen kommt, dauert’s noch länger. So mussten die Austragungen 2020 und 2021 leider entfallen, letztes Jahr fand die 14. Ausgabe statt und dieses Jahr endlich wieder eine „Jubiläumsausgabe“ mit – na klar! – der Einbettung des 100 Meilen-Laufs.
Jetzt oder nie! Ähm, beziehungsweise, erst wieder in frühestens fünf Jahren wieder.
Zünftiger Zielkanal am Dorfgemeinschaftshaus im ULTRAfreundlichen Dorf Fröttstädt im Landkreis Gotha.
„Und, was läufst du so nächstes Jahr?“, ist eine sehr typische Frage, die man als Ultraläufer:in zum Ende einer Saison regelmäßig gestellt bekommt. Ich habe dann immer den JUNUT erwähnt, der schon allein aufgrund seiner geradezu monströsen Ausmaße und Anforderungen mein Jahreshighlight darstellt. Außerdem eine sehr reizvolle und interessante Idee, im Rahmen eines Wettkampfes von Bremen nach Sankt Pauli zu laufen. Und schließlich nannte ich als Drittes die Teilnahme über die 100 Meilen beim thüringenULTRA, auf die ich mich nun schon seit über einem Jahr freue.
Ein Blick zurück
Der thüringenULTRA ist ein besonderer Lauf für mich. 2012 bin ich hier meinen ersten 100er (km! ) gelaufen, da war ich nicht mal zwei Jahre Ultraläufer. Solche „ersten Male“ bleiben im Gedächtnis und dieser auch deswegen, weil meine Frau Anna mich damals auf dem Fahrrad begleitete. Es war also ein Erlebnis, welches wir gemeinsam durchstanden.
Für die Sammler:innen unter uns Ultras ist der thüringenULTRA verhängnisvoll. Jede Teilnahme wird mit einem Stern belohnt, welcher auf das Finisher-Shirt gedruckt wird. Noch eine Teilnahme, noch ein Stern.
2013 wollte ich also wieder hin, erlebte aber die erste längere Verletzungsperiode in meiner noch jungen Ultralauf-Karriere.
2014 war es dann wieder soweit. Anna und ich fuhren erneut nach Fröttstädt und ich sicherte mir den zweiten Stern.
Der Plan für das erste Juli-Wochenende für die nächsten Jahre, ach was: Jahrzehnte, schien damit klar.
Doch im Jahr 2015 trat dann Tom Eller auf den Plan, der sich anschickte, einen Lauf auf dem Kölnpfad über 171 km zu organisieren. Für mich als Wahlkölner war klar, ich muss beim Kölnpfad dabei sein. Blöderweise fiel damit die Teilnahme in Fröttstädt ins Wasser, denn beide Veranstaltungen hatten sich das gleiche Wochenende ausgesucht.
Und dabei ist es dann auch erstmal geblieben. Beim Kölnpfad kannte ich viele Leute und lernte noch mehr kennen, hatte einen Lauf direkt vor der Haustür und auch hier gab es in den Anfangsjahren einen simplen Sammler-Trick, der mich direkt hatte: Einen Stern mehr pro Jahr – allerdings nicht auf einem Shirt, sondern auf einem Finisher-Buckle. Zack, schon wieder angemeldet für 2016. Dann 2017. Dann war ich auf einmal Rekord-Finisher beim Kölnpfad und wollte es auch bleiben. Also auch 2018 dabei und schließlich noch ein fünftes Mal in 2019. Diese beiden Jahre gab es keine Extrawurst-Buckles mehr, denn ich war und bin bis heute der einzige Läufer, der den Kölnpfad im Rahmens eines Wettbewerbs vier- bzw. fünfmal absolviert hat. Das hätte sich wohl nicht gelohnt 😀
Aber so gern ich den Kölnpfad-Ultralauf auch habe, die Strecke ist nicht nur schön, manchmal sogar etwas öde. Und nach fünf erfolgreichen Teilnahmen wurde es Zeit für einen Seitenwechsel. Nach den corona-bedingten Absagen `20 und `21 war ich 2022 als Helfer dabei und betreute über 20 Stunden lang den vorletzten VP.
Wie sollte es 2023 weitergehen – noch mal helfen oder doch wieder laufen?
Die ganzen Jahre über hatte ich den thüringenULTRA nicht vergessen und nun kam die Jubiläumsausgabe mit den 100 Meilen quasi wie gerufen.
Vor dem Lauf
Also reise ich Ende Juni nach Thüringen. Dieses Mal leider ohne Anna, die an diesem Wochenende arbeiten muss.
Am Vorabend schaue ich mir alte Fotos meiner Teilnahme von 2012 und 2014 an. Was war das damals für eine Zeit?
Ich mitten bzw. am Ende meines Studiums. Unbeschwertheit, Leichtigkeit. Klar gab’s damals auch schon Krisen. Aber die AfD war damals noch eine skurrile Splitterpartei von Euro-Skeptikern. Nun, neun Jahre später, fahre ich in ein Bundesland, innerhalb dessen im Landkreis Sonneberg erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal in der Geschichte der BRD ein AfD-Kandidat als Landrat und damit in ein exekutives Amt gewählt wurde. Ein Bundesland, in dem jeder dritte Wahlberechtigte bei der Landtagswahl im kommenden Jahr die AfD wählen würde, wie neueste Umfragen gerade ergeben habe. Die Berichterstattung in den Medien wirkt bei der Einordnung des Geschehens überwiegend ratlos, Politiker:innen aus allen Lagern schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Nur die AfD steht daneben und grinst hämisch.
Eigentlich ist es also genau die richtige Zeit, endlich mal wieder nach Thüringen zu fahren.
Um mit Leuten ins Gespräch zu kommen.
Vielleicht sogar, um mit meinen eigenen Vorurteilen aufzuräumen.
Wahrscheinlich, um eine echte Thüringer Bratwurst zu essen.
Auf jeden Fall, um ein wunderschönes Laufwochenende in und um Fröttstädt zu verbringen.
Ich komme mit dem Zug in Fröttstädt an und lerne direkt am Bahnsteig Marcus Lehmann kennen, der über die 100km an den Start gehen will. Wir gehen in wenigen Minuten zusammen zum Veranstaltungsgelände am Dorfgemeinschaftshaus. Dies liegt schön gelegen am Rande eines Spielplatzes mit einer riesigen, frisch gemähten Grünfläche für Camper und ihre Schlafgelegenheiten. Wir holen zunächst unsere Startunterlagen und bauen dann unsere Zelte auf – nicht zu weit weg von den Toiletten und doch trotzdem nicht zu nah am Trubel des Dorfgemeinschaftshauses.
Dort brummt der Bär. So übersichtlich die Kommunikation im Vorfeld des Laufes vom Veranstalter war, so deutlicher zeigt sich jetzt hier, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Es ist alles geregelt und es wird alles geboten. Startnummerausgabe? – Alles perfekt sortiert je nach gewähltem Bewerb. Dropgab-Abgabe? – Es findet sich jemand, der mir einen blauen Müllsack in die Hand + Filzstift in die Hand drückt. Mensch möchte Kuchen essen, eine Bratwurst oder braucht etwas gegen den Durst? – Es gibt dafür je einzelne Stände. Nicht nur bekommt der etwas überforderte Läufer alles, was er braucht. Meistens kriegt er sogar von den wirklich zahlreichen Helfer:innen noch gratis einen lockeren Spruch obendrauf.
In meiner Jugendzeit als Möchtegern-Ultra (äh, also Ultra-Fan, nicht Ultra-Läufer) meines Dorf-Fußballclubs haben wir manchmal bei Spielen hämisch die gegnerischen Zuschauer:innen besungen mit „Hurra, das ganze Dorf ist da!“. War damals nicht ernst gemeint, sondern eine Provokation, klaro. Jetzt aber muss ich wieder an diesen Spruch denken. Diesmal aber nicht als Provokation, sondern als eindrucksvolle Anerkennung. Krass, gefühlt ist wirklich das ganze Dorf (laut Wikipedia knapp über 400 Einwohner:innen) hier in die Veranstaltung involviert.
Es wird Zeit, dass ich mal etwas über den Lauf an sich schreibe.
Start für die 100 Meilen-Läufer:innen erfolgt jeweils zur vollen Stunde zwischen 15 und 22 Uhr am Freitagnachmittag/-abend. Zunächst geht es auf eine 71km-Schleife, die am ersten VP bei Km 10 der 100km-Strecke endet. Die Hundertmeiler müssen ihre Startzeit so wählen, dass sie auf jeden Fall zwischen 4 und 6 Uhr morgens an diesem VP ankommen. Von dort aus laufen sie dann weiter auf der 100km-Strecke. Zielschluss in Fröttstädt ist für alle Bewerbe (100 Meilen, 100 Km, 2x50km-Staffel, 4x25km-Staffel) um 22 Uhr. Vorteilhaft an dieser Art der Aufteilung ist, dass wir 100Meiler am Samstag viele Begegnungen mit den Läufer:innen der 100km bzw. der Staffeln haben werden, die jeweils um 4 bzw. 5 Uhr in Fröttstädt auf ihre Runde starten und von denen uns dann viele aufgrund ihres schnelleren Tempos überholen werden.
Auf der 100 Meilen-Strecke gibt es insgesamt 23 Verpflegungspunkte, außerdem ist diese durchgehend mit Sprühkreide und Flatterbändern markiert. Für mich sind gerade diese beiden Punkte (Verpflegung + Markierung) kaum zu glaubender Luxus, denn ich bin es von Läufen dieser Länge gewohnt, semi-autonom unterwegs zu sein. Strecke? – Dafür gibt’s doch einen gpx-Track! Verpflegung? – Nimmste dir halt einen großen Rucksack mit und etwa alle 20 km gibt’s ja auch Nachschub. … Beim thüringenULTRA wird für alles gesorgt. Ja, wow, was willst du mehr?!
Zu welcher Uhrzeit soll ich starten? 19 oder 20 Uhr?
Dies war wenige Wochen vor dem Lauf mein Hauptgedanke. Dann musste ich aufgrund von Knieprobemen eine Pause einlegen. Damit war aber auch klar, wenn ich starten kann, dann beginne ich schon um 19 Uhr. Damit habe ich 9 Stunden Zeit, um die ersten 71km zu überwinden. Das muss doch wirklich dicke reichen. Das große Zwischenziel ist es, pünktlich um 4:00 Uhr in Sondra zu sein, um dann noch die maximal zur Verfügung stehende Zeit bis zum Zielschluss zu haben. Man sagte uns mehrfach, dass der VP auf keinen Fall vor 4:00 Uhr öffnen wird, also bringt es nichts, sich über Gebühr zu beeilen.
Der Eine läuft gleich los, der Andere gönnt sich noch mal ’ne Mütze Schlaf. Während ich um 19 Uhr starte, wird Jonathan – zu seiner Überraschung schließlich als einziger Starter – erst um 22 Uhr loslaufen.
Während Marcus und ich unsere Zelte aufbauen, ertönt Applaus. Es ist 16 Uhr und fünf 100Meiler sind just eben gestartet. Ich eile kurz zur Strecke, um sie anzufeuern. Das ist ein schönes, sich nun stündlich wiederholendes Unterhaltungsprogramm. Jetzt müssen wir nur noch die Zeit dazwischen rumkriegen. Wir haben beide noch keine große Mahlzeit gehabt. Also holen wir uns direkt eine leckere Thüringer Bratwurst und ein alkoholfreies Bier. Peeerfekt! Um kurz vor 17 Uhr gehen wir neugierig in den Startbereich, spitzen die Ohren beim dortigen Briefing und schicken die nächste Gruppe der 100Meilen dann mit großem Applaus auf die Strecke.
Wir gehen zurück zum Dorfgemeinschaftshaus, denn jetzt ist schon wieder Zeit für die Pasta-Party. Vor meinem Start um 19 Uhr möchte ich gern noch was in den Bauch bekommen, um mit möglichst viel Kraft auf die Strecke zu gehen.
Und während wir da so sitzen und essen, sehe ich dann auch endlich Jonathan Gakstatter, der gerade eben eingetroffen ist und erst um 22 Uhr starten wird. Erfreulicherweise laufen Jonathan und ich einige Dinger zusammen dieses Jahr, zuletzt haben wir uns beim JUNUT gesehen. Jetzt wird zu dritt viel gequatscht, Blödsinn erzählt und ein wenig gefachsimpelt. Nachdem wir uns gemeinsam den Start um 18 Uhr angeschaut haben, wird es Zeit für meine eigenen Startvorbereitungen.
Die Auftaktschleife (Km 1 – 71)
Bei der Ankunft auf dem Gelände habe ich Wolfram Andrae getroffen, wir sind uns bei diversen Läufen immer mal wieder über den Weg gelaufen. Wolfram will auch um 19 Uhr starten und hat sich ebenfalls als Zwischenziel gesetzt, um 4:00 Uhr bei Km71 in Sondra anzukommen. Na dann, lass uns das doch gemeinsam angehen!
Die Stimmung beim Briefing kurz vorm Start ist geradezu ausgelassen, alle freuen sich darauf, endlich loszulaufen. Etwa 15 Personen haben sich zu einem Start um diese Uhrzeit entschieden.
Dann geht’s los! Ich selbst starte mit leichtem Gepäck (einer kleinen Laufweste), einer bereits mit Wasser gefüllten Softflask in der Hand und wir alle gemeinsam starten bei bestem Wetter (bedeckt, mild) in den Freitagabend, in den 100 Meilen thüringenULTRA.
Einige aus dem Feld düsen so schnell los, dass ich mich nur kopfschüttelnd fragen kann, ob sie dann nicht viel zu früh in Sondra sein werden, wenn das Tempo auch nur annähernd gehalten wird. Klar ist aber auch, dass die allermeisten Läufer:innen hier absolut erfahren sind und schon wissen, was sie tun.
Wolfram und ich lassen es etwas langsamer angehen und gehen konsequent auch kleine Erhebungen. Es dauert nicht mal fünf Kilometer, schon sind wir mitten drin in einer Diskussion über „Habecks Heizungshammer“. (Ich halte von der sog. BILD-Zeitung nicht viel, aber man muss den Verantwortlichen lassen, dass sie ein Händchen für Alliterationen haben, die im Kopf hängen bleiben). Geht also schon gut los.
Es bleibt aber auch noch genug Zeit, um die Natur zu genießen: sanft im Wind wogende Ähren, zierpende Grillen, wechselnde Untergründe unter unseren Füßen.
Wolfram steht im Anna-Wald.
Nach einigen Kilometern gesellt sich ein weiterer Läufer zu uns, es ist Arne Eigenbrodt. Nach wenigen Sekunden ist klar, auch Arne möchte um 4:00 Uhr in Sondra sein. Also sind wir nun zu dritt und kommen allerbester Laune am ersten VP bei knapp Km 15 an.
Was gibt’s zu essen? Eine Frage, die für mich wesentlich ist. Charakteristisch bei diesem Lauf sind meines Erachtens die Toasts aus hellem Weizenmehl, die jeweils mit allem möglichen belegt bzw. bestrichen sind: Käse oder Wurst oder Schmalz. Muss man nicht viel kauen und das darin Zucker geht direkt ins Blut, also greife ich da immer gern zu. Klar gibt’s auch noch mehr: Gurkenstücke, Bananen, Orangen, am nächsten Tag auch heiß begehrte Wassermelonen, außerdem Kekse, Schokolade, hin und wieder Salzkartoffeln, Kuchen. Zu trinken immer Wasser, Iso, Cola, je nach Tageszeit heißen oder kalten Tee, Kaffee, Brühe. Bestimmt habe ich noch etwas vergessen, es ist jedenfalls den ganzen Lauf über hervorragend für uns gesorgt.
Sonnenuntergang.
Kurz vor Sonneborn schließt dann ein weiterer Läufer, Victor Gross, zu uns auf. Es ist sein erster Hundertmeiler. Nun sind wir mehr oder weniger zu viert. Auch wenn wir nicht immer zu viert nebeneinander her laufen, sind wir doch beim Laufen in der Regel nur so 100 Meter auseinander.
Nächster VP ist bei etwa Km 27 in Neufrankenroda. Die Streckenführung würde momentan vermutlich keinen Originalitätspreis gewinnen. Oft geht es kilometerlang schnurgeradeaus über Betonplatten oder wir laufen monotone Kieswege entlang. Man kann es aber auch anders sehen: Es sind leichte Kilometer, nur wenig Höhenunterschied und wir kommen so gut ins Rollen. Klar ist uns aber auch, dass es nicht so bleiben wird. Niemand von uns vieren ist hier bei dieser Veranstaltung schon die 100 Meilen gelaufen, aber nach dem ersten Marathon sollen dann die Höhenmeter kommen.
Und kaum haben wir diesen Marathon und den dazugehörigen VP am Fuße des Hörselbergs nach exakt 5:00 h erreicht, geht’s massiv bergauf. Glücklicherweise aber nicht allzu lange und dann kommt ein wirklich sehr, sehr schöner Trail auf dem Grat des Hörselbergs, von dem wir leider nicht allzu viel haben, weil es eben dunkel ist. Wie an einer Schnur aufgezogen laufen wir zu viert hintereinander. „Stein“, sagt Wolfram als Erster und gibt damit die Info nach hinten weiter. „Stein“, sage ich als Zweiter in der Reihe. „Stein“, sagt Arne als Dritter. „Stein“, sagt Victor als vierter Läufer, damit seine Radbegleitung, die sich am Ende unserer Gruppe irgendwie über den Trail müht, auch den fetten Stein sieht, der dort aus dem Boden ragt. Es ist ein schöner Moment des Laufs, ich fühle mich im Flow und habe den Eindruck, dass es den Anderen auch so geht. Über viele Minuten ertönt nur „Stein“ … „Wurzel“ … „Vorsicht, steil runter“ … zwischendurch: „ächz…stöhn…uff“ … und diejenigen von uns, die sich trauen, mal kurz den Kegel der Stirnlampe vom Trail auf die Umgebung zu richten, erhaschen zur Belohnung atemberaubende Blicke ins Tal auf die Stadt Wutha.
Schließlich kommen wir auch wieder heil runter vom Hörselberg, können ein paar Kilometer entspannt entlang von Bahnschienen laufen und kommen nach etwa 53 km um 1:15 Uhr morgens beim nächsten VP an. Die Stimmung ist nach wie vor gut und nachdem Wolfram an den letzten Stationen immer der erste von uns war, der wieder bereit zum Loslaufen war, bin ich es nun. Hernach zerfällt unsere Vierergruppe ein wenig. Es kommen ein paar Anstiege, die Wolfram und ich etwas schneller angehen als Arne und Victor. Schon kommt der nächste VP bei etwa Km 61, den wir gegen 2:20 Uhr erreichen. Während ich mich verpflege, fällt mir auf, dass ein Betreuer dieser VP auf mich deutet und leise etwas zu seinem Kollegen sagt.
„Was ist los?“, frage ich ihn.
„Du bist die Nummer 1032. Du bist eigentlich gar nicht dabei“, sagt er.
„Wie, ich bin nicht dabei?“
„Ja, deine Nummer ist beim Start nicht aufgetaucht. Erst später dann“, meint er.
„Aha, und was soll ich jetzt machen? Ich laufe doch jetzt nicht wieder zurück!“, entgegne ich ihm jetzt.
So oder so ähnlich ist das Gespräch abgelaufen, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls kostet es mich richtig Nerven. Der Betreuer – im Nachhinein bin ich mir gar nicht sicher, ob es überhaupt ein Betreuer war oder nur jemand, der zufällig vor Ort war und mal ungefragt seine Gedanken laut aussprechen wollte – faselt noch etwas von Disqualifikation und dann höre ich nicht mehr hin.
Ab sofort bin ich beschäftigt. Ist es so, dass mein Zeitmess-Chip tatsächlich nicht ausgelöst hat beim Start? Möglich ist es, kontrollieren kann ich es nicht. Und was heißt das dann für die Wertung meines Laufs? Zwar kann ich mich selbst ziemlich schnell damit beruhigen, dass ich ja genug Beweise vorlegen kann, falls jemand fragen sollte. Ich bin ja bisher jeden Meter mit Wolfram gelaufen, er kann es bestätigen. Am Start hat mich mindestens auch Jonathan gesehen, außerdem war ein Fotograf vor Ort, der im Zweifelsfall sogar einen Fotobeweis meines Starts hat. Und ich zeichne ja meinen Track auf. Also gibt es Beweise genug, dass ich regulär mit allen gestartet bin und eigentlich keinen Grund dafür, die Bemerkung irgendeines Typen ernst zu nehmen. Das sieht Arne, mit dem ich kurz darüber spreche, auch so. Er versucht mir Mut zu machen und rät mir, diese Sprüche nicht zu Herzen zu nehmen. Und wenn meine Leistung wirklich angezweifelt würde, dann würde er mit mir gemeinsam zur Zeitnahme gehen und bestätigen, dass buchstäblich alles mit rechten Dingen gelaufen ist. Danke, Arne.
Motivierender Wegweiser am VP in Rothenhof.
Zwar bin ich nun etwas beruhigter, aber im Kopf geistert trotzdem noch mehrere Stunden die Frage herum, ob es nicht doch noch Probleme mit meiner Wertung geben könnte. Warum ist es mir denn eigentlich so wichtig, gewertet zu werden? Naja, klar, ich könnte jetzt so tun, als ginge es mir nur um das Laufen und das Genießen der Landschaft und so. Ich wünschte, ich wäre so abgeklärt. Aber es ist nicht so. Ich habe hier eine Startnummer, einen Zeitmess-Chip, habe Geld bezahlt für die Anmeldung und die Zugtickets, also möchte ich natürlich auch gewertet werden und eine „offiziell“ gemessene Zeit haben. Oder bin ich da verbohrt?
Meine Gedanken kreisen, während am Himmel die ersten Zeichen der Morgendämmerung zu sehen sind. Das Schwarz der Nacht wird durchlässiger für andere Farben, ein bisschen Blau, ein bisschen Grau. Die Vögel erwachen. Ich liebe es.
Wir drei, Wolfram, Arne und ich, werden in Kürze Sondra erreichen. Wolfram hängt nun seit ein paar Kilometern ein paar Schritte hinterher, obwohl sich unser Tempo nicht beschleunigt hat. Als ich ihn frage, ob bei ihm alles okay sei, antwortet er, dass er gerade ein kleines Tief habe. „Es ist nicht mehr weit bis Sondra, dann machen wir eine kurze Pause und es wird hell“, versuche ich ihn zu ermutigen.
Und tatsächlich weist ein Straßenschild in Sättelstädt unseren temporären Sehnsuchtsort Sondra mit nur 1 km Entfernung aus. Kurz darauf passieren wir zu dritt nebeneinander laufend wie in einer Phalanx das Ortseingangsschild. Vom VP keine Spur, stattdessen geht es stetig minimal bergan. Sondra ist eigentlich ein kleines Dorf und zeichnet sich in meiner Wahrnehmung nach über 70 gelaufenen Kilometern vor allem dadurch aus, dass man es tatsächlich geschafft hat, alle Wohnhäuser, die der Ort so hat, ordentlich entlang einer Hauptstraße zu platzieren, wodurch sich alles ziiiieht. Und zieht, und zieht.
Aber dann ist es halt irgendwann geschafft und wir treffen um genau 4:10 Uhr am Verpflegungspunkt ein. Ich laufe extra nah an dem Empfänger-Dingsbums vorbei und stiere ultra-achtsam auf meinen Zeitmess-Sender, bis dieser durch hektisches Blinken und ein paar schiefe elektronische Töne wirklich eindeutig zu verstehen gibt, dass mein Signal angekommen ist. Besser ist das.
Wie sich herausstellt, haben wir ein ziemlich gutes Timing, denn so einige Läufer:innen, die schon vor uns da waren, machen sich jetzt gerade wieder auf die Weiterreise und so gibt es überall Platz und freundliche Helfer:innen, die Wolfram und mir bei der Suche nach unseren Dropbags helfen. Eigentlich war es eine schlaue Idee, alle persönlichen Beutel noch mal in dunkelblaue Mülltüten zu verpacken, dann wird im Fall der Fälle nichts nass. Jedoch ist es jetzt ein wahres Fest für Rätselfreunde: Ist es diese Tüte hier, nein, die ist etwas zu groß, ist es diese Tüte hier, nein, die hab ich ja ganz anders beschriftet, ist es diese Tüte hier, nein, auch nicht meine Startnummer drauf.
Arne, der keinen Dropbag abgegeben hat und sowieso nicht allzu lange an VPs herumtrödelt, verabschiedet sich schon mal und läuft weiter. Wolfram und ich lassen uns etwas mehr Zeit, essen und trinken ausgiebig, ich wechsle sogar das Shirt und schmiere mir meine Füße neu mit Vaseline ein. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und so.
Nach etwa zehnminütiger Pause ist alles getan und es kann weitergehen.
Der Rundkurs (Km 72 – 161)
Mein Dropbag in Sondra war nicht notwendig, diente aber vor allem dazu, die Stirnlampe loszuwerden. Und auch, wenn es noch nicht ganz hell ist, brauchen wir diese wirklich nicht mehr, denn es geht nun erstmal wieder bergauf und wir müssen gehen. Das ist eine gute Einstimmung auf die nächsten 20 km, da wird’s überwiegend positive Höhenmeter geben.
Hinauf im Morgenrot. An so etwas musste ich in den Monaten vorher immer denken, wenn mir der Lauf durch den Kopf ging. Gibt es etwas Schöneres, als in der besten Morgenfrische durch einen Wald zu latschen? Doch ja, es könnte noch schöner sein. Denn dieser Wald ist eigentlich gar keiner mehr. So prächtig die Aussicht auch ist, so ist diese nur deshalb möglich, weil hier an den Hängen kaum noch ein Baum steht. Wo bei meiner letzten Teilnahme 2014 noch ein Nadelwald zu durchschreiten war, erleben wir hier alle die Auswirkungen des Klimawandels. Hitzestress machte den Fichten die eigene Schädlingsbekämpfung unmöglich, der Borkenkäfer schlug millionenfach zu, wenig später ebenso der Harvester. Nun liegen die nackten Stämme alle ordentlich sortiert am Wegesrand. Aber wer will das denn sehen im Thüringer Wald?
Weil ich trotzdem nicht genug kriegen kann von der Morgenstimmung, bleibe ich hier nun ab und zu stehen, um Fotos zu machen. Wolfram läuft auf mein Bitten hin schon mal weiter und ich hole ihn wieder ein.
Toter Wald im Morgenrot.
Nun geht’s dann doch kurz etwas runter und nach der Überquerung der B88 bei Schmerbach kommt schon der nächste VP. Das ging fix! Genauso fix sind schon die ersten 100km-Läufer, die uns hier überholen und bereits ihre ersten 15km in etwa 1:15 h absolviert haben. Okay, wow, das ist schnell. So wird es nun die nächsten Stunden immer weitergehen, denke ich, schnelle Läufer:innen überholen uns und dadurch wird uns nicht so langweilig. Vielleicht wird sich ja auch der eine oder die andere von ihnen beeindruckt zeigen von uns Hundertmeilern, das wäre ja ein schöner Nebeneffekt.
Weiterhin ist es ein schöner Gedanke, dass es bis zum Ziel auf einer verbleibenden „Reststrecke“ von etwa 85 km noch 16 VPs geben wird – rechnerisch etwa alle fünfeinhalb km der nächste. Was für ein Luxus!
Mittlerweile sind wir über 10 Stunden unterwegs. Wolfram und ich haben, wie vor dem Start abgemacht, die Nacht zusammen hinter uns gebracht. Es hat uns beiden gut getan. Doch bereits seit einigen Kilometern haben wir nicht mehr das gleiche Tempo. Wolfram kann sein gegenwärtiges Tief anscheinend noch nicht überwinden, gleichzeitig fühle ich mich richtig gut und habe das Gefühl, durch das gemeinsame Laufen eher gebremst zu werden. Ist es unsolidarisch von mir, wenn wir uns jetzt trennen? Zwar haben wir nie davon gesprochen, den gesamten Lauf zusammen bewältigen, sondern immer nur davon, um 4 Uhr in Sondra ankommen zu wollen. Und es ist ja auch eher selten, dass Läufer, die vorher noch nie gemeinsam gelaufen sind, direkt 100 Meilen Seite an Seite zurücklegen. Trotzdem habe ich ein kleines schlechtes Gewissen, wenn ich mich jetzt nach vorn verabschiede. Gerade weil Wolfram momentan nicht seine starke Phase hat – lasse ich ihn dann im Stich?
Während ich mir diese Frage stelle, laufen wir auf zwei Läufer:innen auf, von denen ich eine als Vereinskameradin Nicole Kresse erkenne. Zu viert stiefeln wir nun den wieder den nächsten Anhang rauf und zuckeln ihn dann wieder herunter. Unruhe steigt in mir auf.
„Wolfram, wir haben nicht mehr das gleiche Tempo. Ich würde gern ein bisschen schneller laufen. Ich hoffe, das ist okay für dich? Danke für den gemeinsamen Lauf bisher, das war schön!“, kommt alles gleichzeitig aus mir raus. Wolfram scheint ein bisschen überrascht zu sein, hat aber nichts dagegen einzuwenden, und so beschleunige ich meine Schritte und lasse die drei zurück. Das Wissen, dass Wolfram nun Teil einer feinen, lustigen Gruppe ist, erleichtert meine Entscheidung.
Wer sich nach vorn verabschiedet, weil er sich besser fühlt, sollte sich im besten Fall auch tatsächlich von der Gruppe absetzen können. Sonst wird es eher peinlich für ihn, weil die Gruppe, die er verlässt, ziemlich rasch die Einschätzung bekommen könnte, der Läufer sei gar nicht grundsätzlich schneller, sondern habe diese Entscheidung aus bald wieder verfliegenem Übermut getroffen.
Ich kann mich nicht absetzen, weil es zunächst wieder kilometerlang bergauf geht, und höre die gut gelaunt quatschende Gruppe immer so fünfzig bis siebzig Meter hinter mir. Beim nächsten VP in Ruhla verbleibe ich daher nur kurz, treffe auf Arne, der überrascht und erfreut ist, mich wieder zu sehen. Ich überlege wenige Sekunden, ob ich gern mit ihm zusammenlaufen möchte, denn immer noch ist etwa die Hälfte zu absolvieren, das kann allein lang werden. Aber eigentlich möchte ich noch viel lieber gern erstmal mein eigenes Tempo laufen. Also ciao, Arne, wir sehen uns später.
Die nächsten Kilometer läuft es einfach. Trotz 80 km in den Beinen fühle ich mich richtig gut und lasse bergab rollen. In dieser Zeit sehe ich so viele Läufer:innen wie nie zuvor und nie mehr danach im Rennen, denn nun laufe ich auf all diejenigen Hundertmeiler auf, die Sondra pünktlich um 4 Uhr verlassen haben. Auch so manche 100km-Läufer:innen laufen hier zu mir auf oder überholen mich direkt. An einem Anstieg unterhalte ich mich mit dem Großmeister Christoph Janthur, der über die 100k gemeldet hat. Seine Ferse zwickt immer noch, er würde gern unter 12 Stunden bleibt, schafft er am Ende natürlich absolut souverän, dann verabschiedet er sich seinerseits auch wieder nach vorn. Ich treffe die Akkord-Ultraläufer:innen Gabi Schumacher und Christoph Hardes, mit denen ich mich kurz über den Lauf Bremen – St. Pauli unterhalte, dann verabschiede ich mich meinerseits wieder nach vorn.
Wann überholt mich eigentlich Jonathan?
Fingerhüte und Ultraläufer:innen.
Es rollt und ich lasse es rollen. An der VP Glasbachwiese ein paar Stücke Wassermelone reinschieben und weiter rollen lassen. Abschnitte, die sanft hinab führen, lege ich unter 5:30 min/km zurück. Bergauf flott wandern mit 9 min/km.
Der Große Inselberg kommt in Sicht, nach dem VP bei Brotterode laufen wir übers offene Feld auf ihn zu. Zack, kommt auch die Sonne mal raus, sofort wird mir warm. Zeit, die Ärmlinge auszuziehen. Der VP Grenzwiese (für mich Km 99) wird von einer unterhaltsamen Frauen-Runde geschmissen, hier fühlt man sich sehr schnell total wohl.
Immer weiter durch den Wald. Hin und wieder denke ich immer noch an die Sache mit der Zeitmessung. Dann fällt mir ein – auf der Startnummer ist doch eine Info-Telefonnummer aufgeschrieben. Ich könnte doch mal durchrufen und dort mein Anliegen schildern? Oder ist die Nummer nur für Notfälle? Ich werde aber ja noch sehr viele Stunden unterwegs sein und wenn mir die Rennleitung Klarheit verschaffen kann, dann wäre mir damit wirklich sehr geholfen. Als ich an der nächsten Steigung gehen muss, hole ich mein Handy raus und rufe an. Zunächst klappt es nicht, doch dann werde ich zurückgerufen und schildere der freundlichen Frau am anderen Ende der Leitung mein Anliegen, ob sie mal checken könnte, was die Messung im Ziel anzeigt und was ich machen könne. Sie antwortet, dass die Firma, die die Zeitmessung durchführt, noch nicht vor Ort sei, sie sich aber darum kümmern werde. Es würde sich aber bestimmt regeln lassen. Schließlich ruft sie mich zurück und versichert mir zu meiner großen Erleichterung, dass alle erforderlichen Daten eingegangen seien und ich selbstverständlich gewertet werde. Ich bedanke mich freudig und bin einfach nur erleichtert. Gut, dass diese Sache jetzt abgeschlossen ist.
Blick zurück, aber der Große Inselsberg ist schon ganz nah.
Passend zu meiner Stimmung geht’s kilometerlang überwiegend bergab. Einerseits ist es anstrengend für meinen Körper, so viel am Stück zu laufen und er hätte gern mal eine Gehpause. Andererseits gibt es für eine Gehpause keinen einzigen guten Grund. Bergab wird gelaufen. Wenn es fünf Kilometer bergab geht, wird halt auch fünf Kilometer am Stück gelaufen. Puh, ganz schön anstrengend. Wie heißt es doch so schön? Das Tempo tötet, nicht die Distanz. Ich werde es heute auf einen Versuch ankommen lassen, denn auch nach über 100 gelaufenen Kilometern bewege ich mich bergab immer noch deutlich näher an einem 5er-, als an einem 6er-Schnitt. Kann sein, dass sich das rächen wird. Aber egal, wenn’s schon mal läuft, dann will ich es halt auch laufen lassen. Und trotz meines chronisch schlechten Erinnerungsvermögens habe ich mir doch gemerkt, dass es nach Floh-Seligenthal wieder schön steil bergauf geht und dann ist wieder Wandertag angesagt.
An diesem Punkt im Rennen überholt mich kein Läufer mehr, weder von den 100Meilen, 100Km oder aus der Staffel. Wir laufen alle zügig auf der ehemaligen, nun asphaltierten Bahntrasse, die fast ausschließlich sanft bergab führt. Genial zum Laufen, aber doch auch schon ziemlich anstrengend in einem gewissen Tempo. Wann kommt denn endlich dieser VP?? Noch eine 180°-Kurve, dann noch ein Kilometer… und dann laufen wir am Sportplatz in Floh-Seligenthal beim dortigen VP ein. BIIIEP, Disko-Blinken meines Senders, alles gut.
Aber, puuuh, bin ich platt. Das schnelle Laufen am Stück hat Kraft gekostet und hier, um 15:15 Uhr nach 114 zurückgelegten Kilometern spüre ich besonders intensiv das Brennen meiner Oberschenkel vom Bergablaufen und die stickige, hitzegeschwängerte Sommerluft. Ich futtere Wassermelone im Akkord, aber auch eine Kartoffel und Schmalztoasts, um bei Kräften zu bleiben. Immerhin habe ich hier über zwei Drittel der Gesamtstrecke geschafft. Aber immer noch mehr als ein Marathon…und dazu nun gleich in der Nachmittagssonne bergauf wandern… puh, da fehlt schon etwas die Lust.
Lieber nicht zu viele dieser negativen Gedanken zulassen, lieber nicht zu lange überlegen, wie es mit meinen Oberschenkeln weitergehen soll. Lieber wieder loslatschen. Der Berg ruft.
Auf den nächsten knapp 7 km sind über 350 HM zu überwinden. Leider ist davon nicht alles im Schatten des Waldes, der Schweiß fließt in Strömen. Es ist auch deutlich einsamer hier als noch auf der Strecke bis zum letzten VP, wo auch ein Wechselpunkt für die Staffeln war und dementsprechend groß die Party dort.
Als ich so vor mich hintrotte, nähert sich jemand von hinten. Ein 100km-Läufer, der natürlich noch frischer ist als ich und auch hier am Berg noch mehr Tempo machen kann. Wir grüßen uns und er ackert weiter den Berg hoch.
Wenige Minuten ist wieder einer hinter mir. Das kann doch nicht wahr sein, so langsam bin ich doch wirklich nicht. Ich drehe mich um – und erkenne mit großer Freude, dass mich so eben Jonathan eingeholt hat! Den ganzen Lauf über habe ich mich auf diesen Moment gefreut und natürlich bin ich auch etwas stolz darauf, dass es erst jetzt, nach fast 120 km zu diesem Überholmanöver kommt. Allerdings ist Jonathan halt auch erst um 22 Uhr gestartet, also drei Stunden nach mir, und ist dementsprechend schnell unterwegs. Hier am Anstieg geht auch er und ich versuche, ihm zu folgen. Wir unterhalten uns darüber, wie wir durch die Nacht gekommen sind und was wir von den restlichen Kilometern erwarten, sprechen über besonders markante Streckenabschnitte, über den Luxus der zahlreichen Verpflegungspunkte und der markierten Wegführung. Es ist einfach eine absolute Wohltat, hier so unbefangen mit jemandem zu quatschen, den man etwas besser kennt. Wir marschieren beide den Anstieg hinauf und das Treffen beflügelt mich so sehr, dass ich an einer Stelle mit nicht ganz so enormer Steigung wieder zu joggen beginne. Jonathan lässt sich nicht bitten und schließt auf. Was beinahe logischerweise folgt ist meine Einsicht, mich dann doch vielleicht gerade etwas zu übernehmen und ich wechsele wieder in den Wanderschritt. Jonathan läuft allerdings weiter und damit endet unsere kurze, gemeinsame Zeit.
Der VP am Jobstein, der kurz darauf erreicht ist, liegt etwas exponiert, sodass bei meiner Ankunft direkt ein Pappteller mit Salzbrezeln durch den Wind vom Tisch geweht wird. Die Helfer:innen hier oben haben es echt nicht leicht, umso dankbarer bin ich für ihren Support. Leider ist der Anstieg immer noch nicht vorbei. Man, man, man, so langsam hätte ich auch mal wieder Lust zu laufen. Hilft ja nix.
Ein paar Meter auf dem Rennsteig.
Dann ist es geschafft, wir laufen nun ein paar Meter auf dem Original-„Rennsteig“ und kommen an der Ebertswiese an. Hier bin ich vor zwölf Jahren das erste Mal bei meiner ersten und bisher einzigen Teilnahme den Supermarathon gelaufen. Damals war es die längste Distanz für mich und mein Vater begleitete mich auf dieser großen, abenteuerlichen Reise. Lang, lang ist’s her…
Nun geht es sieben Kilometer hinunter, erst auf schmalen Trails, dann auf breiteren Waldwegen, entlang des Flüsschens Spitter bis nach Tambach-Dietharz. Es gilt Dasselbe, was auch schon für die Bahntrasse nach Floh-Seligenthal galt: alles muss gelaufen werden. Und so laufe ich auch alles, deutlich unter’m 6er-Schnitt. Es ziiiiieht sich wie Kaugummi, aber irgendwann bin ich am VP, wo jede:r Läufer:in mit Namen durchs Mirko angekündigt wird und ich erstmal wieder Wassermelone futtern kann.
Der nächste VP ist nur drei Kilometer entfernt, doch Steigungen von bis zu 13% sorgen für die notwendige Demut. Ich kann mir bei einem Lauf nur wenig Ekligeres vorstellen, als mitten in der prallen Sonne einen Berg auf einer hitzereflektierenden Asphaltstraße stumpf geradeaus hoch zu latschen. Es ist zermürbend. Was hält hier noch die Motivation hoch? Eigentlich nur, dass es keine 30 Kilometer mehr sind bis ins Ziel.
Am nächsten VP mache ich nur kurz Halt, nach nur 3 km brauche ich keine ausführliche Pause, will lieber weiter Meter machen. Es geht nun wieder bergab und auch, wenn ich dieses Gefälle immer noch unter 6 min/km laufen kann, fühle ich mich weiterhin schlapp und schwerfällig. Was kann ich tun, um mich leichter zu fühlen, damit es sich für mich leichter anfühlt? Was ist denn leicht? Beim Laufen ist ein federnder Schritt Ausdruck von anstrengungsloser Leichtigkeit. Ein federnder Schritt. Federnd. Feder. Ich bin eine Feder. Ich bin eine Feder??? Ich bin eine Feder!! Ich bin leicht wie eine Feder. Ich habe einen federnden Schritt und bin leicht wie eine Feder. Ich schwebe, leicht wie eine Feder, über den Asphalt. Leicht wie eine Feder. Ich schwebe, leicht wie eine Feder. Wie eine Feder.
Es funktioniert. Zu meiner persönlichen Überraschung fühle ich mich besser, leichter. Sagenhaft! Ist das jetzt schon ein Mantra oder was ist das? Jedenfalls funktioniert es tatsächlich. Vielleicht sollte ich das Buche „Mentaltraining für Ultraläufer“ doch noch mal lesen, bisher steht es nur zu Hause in meinem Bücherregal.
Es gelingt mir von nun an in diesem Lauf, das neu entwickelte Mantra regelmäßig in schwierigen Situationen einzusetzen und mein Gefühl von Anstrengung damit hin und wieder zu reduzieren.
Doch natürlich bleibt die Anstrengung. Und auch für den oftmals wirklich schönen Wald um mich herum habe ich nur noch im Ausnahmefall einen würdigenden Blick übrig. Die Strecke führt uns in einem großen Bogen einmal fast um ganz Finsterbergen herum, bevor wird den großen Verpflegungs- und Wechselpunkt am dortigen Sportplatz erreichen. Da ich mir nicht sicher bin, ob mein Sender beim ersten Durchlaufen die Zeit durchgegeben hat, drehe ich am VP noch mal eine Ehrenrunde und laufe noch mal dran vorbei. Doppelt hält besser, hier will ich echt gar kein Risiko mehr eingehen. Am VP selbst komme ich kurz ins Gespräch mit einem 100km-Läufer, der aufgrund von Unterleibsschmerzen hier leider aussteigen muss. Puh, das ist heftig. Glücklicherweise wurde ich bisher von solcherlei Dingen verschont.
Also, weiter geht’s. Nur noch 24 Kilometer bis ins Ziel! Es geht noch mal heftig bergauf, dann sehr giftig bergab, die Oberschenkel geben vor lauter Begeisterung eine Runde Milchsäure aus. Doch dann sind die krassen Höhenmeter geschafft und beim VP in Friedrichsroda sind es keine 20 km mehr.
„Bist du nicht Markus?“, fragt mich einer der Supporter dort.
„Matthias!“, korrigiere ich ihn.
„Ah stimmt, Matthias! Erinnerst du dich noch? Wir sind 2014 ein Stück zusammen gelaufen!“
Im Leben hätte ich das Gesicht nicht erkannt. Doch der freundliche Mann, den ich nicht getraut habe, nach seinem Namen zu fragen, ist ganz und gar nicht nachtragend, sondern empfiehlt mir stattdessen, doch noch mal für einen Urlaub herzukommen, er könne mir eine gute Ferienwohnung empfehlen und weist auf das Haus hinter dem VP. „Ja, warum nicht, wenn ich es mir bis ins Ziel merken kann“, entgegne ich.
Dann geht’s weiter. Ich bin leicht wie eine Feder, ich schwebe über den Boden. Auf breiten Forstwegen, zumeist im Schatten, geht es voran. Schaffe ich es unter 22 Stunden ins Ziel? Die Möglichkeit besteht noch, für knapp 20 Kilometer bleiben mir dafür noch etwa 3 Stunden Zeit.
Klar, es zieht sich jetzt. Der nächste VP in Tabarz kommt und kommt und kommt einfach nicht in Sicht. Hier noch ein kleines Stück bergauf, dort noch ein Segment in der prallen Sonne, hier noch eine Kurve, dort noch Treppen hoch. „Sollten wir nicht schon längst da sein?“, fragt mich ein Läufer leicht verzweifelt, als ich ihn überhole. Schließlich sind wir auch endlich da. Das Tretbecken hier hat eine große Anziehungskraft auf mich und es muss herrlich sein, sich darin abzukühlen. Noch mehr fühle ich mich allerdings vom Ziel angezogen und der Möglichkeit, es unter 22 Stunden Laufzeit zu erreichen. Also weiter ohne Abkühlung.
Noch 14 Kilometer, noch etwa 2:20 h Zeit bis 17 Uhr. 6km VP, dann 3km VP, noch mal 3km VP, schließlich 2km Ziel.
Steigungen gibt es keine nennenswerten mehr, das meiste ist flach und oder leicht abfallend. Dafür haben wir mit der VP in Bad Tabarz auch endgültig den Thüringer Wald verlassen und laufen nun durch Felder. Glücklicherweise hat sich der Himmel etwas zugezogen und die glühende Juli-Sonne bleibt uns erspart. Überhaupt ist das Wetter gut und ganz ohne Sonne wäre so ein Lauf im Sommer ja auch doof.
Ich bin eine Feder.
Der VP 8km vor Ziel ist erreicht und wird wieder verlassen. Einen Kilometer weiter stehen mitten auf dem Feldweg vier Personen, davon zwei Frauen mit PomPoms, wie man sie von Cheerleaderinnen kennt. Sie feuern mich an und wünschen mir noch viel Spaß. Dieser unerwartete Zuspruch ist ein schöner Vorgeschmack auf den legendären VP bei Kilometer 95, auf den ich nun schon lange hin fiebere und den ich dann auch endlich erreiche. Bereits viele hundert Meter kann man ihn hören, bevor man ihn sieht. Die stimmungsvolle Musik, die hier gespielt wird, tönt den ankommenden Läufer:innen schon von weitem übers Feld entgegen. Jede:r Einzelne wird von einer Gruppe Mädchen empfangen, die als Cheerleaderinnen verkleidet mit PomPoms uns Anfeuerungen zurufen. Ich muss schlucken, um mir die Tränen zu verkneifen. Die Helfer:innen am VP sind alle bestens gelaunt und strahlen mich an. Ich lasse mir nur mal wieder meine Softflask, die ich schon seit über 20 Stunden in der Hand halte, mit Wasser auffüllen, dann geht’s weiter.
Doch kaum habe ich den VP verlassen, schießen mir die Tränen in die Augen, vor Rührung vor Erleichterung, vor Freude. Ich weiß, dass ich es locker unter 22 Stunden schaffen werde. Überhaupt, dass ich es schaffen werde und es dann bald auch schon geschafft sein wird. Bei jedem Lauf über eine so lange Distanz gelange ich schon vor dem Ziel an diesen Punkt, an dem alles von mir abfällt. Wenn mir auf einmal bewusst wird, dass Anstrengung und Zweifel schon bald vorbei sein werden. Dass ich das Ziel, auf das ich über Monate hingefiebert und hingearbeitet habe, schon sehr bald tatsächlich erreiche und mich nichts mehr davon abhalten wird. Beim JUNUT etwa kam dieser Punkt, als Dési und ich 15 km vor Schluss den letzten VP erreichten. Wann bei einem Lauf dieser Punkt genau eintritt, kann ich nicht voraussagen. Aber wenn er eintritt, dann sind die Gefühle viel heftiger und intensiver als beim Zieleinlauf. Denn im Ziel sind ja meistens immer viele Leute und ich möchte mit meinen Emotionen lieber allein sein.
Nur noch ein Kilometer bis zum Ziel.
Weiter geht’s auf den Schlussabschnitt auf langen, monotonen Geraden durch das Industriegebiet von Waltershausen und am Sportplatz von Hörselgau, 2 Km vor dem Ziel, treffe ich dann einen freundlichen 100km-Läufer, der etwa das gleiche Tempo hat. Wir beschließen, den Rest des Laufs zu genießen nd es nicht mehr im Sprint zu Ende zu bringen. Am – für mich ebenso legendären – „99km-Schild nehmen wir uns ausreichend Zeit für das obligatorische Foto und joggen dann gemeinsam in Fröttstädt ein. Die Ziellinie überquere ich mit einer Finisher-Zeit von 21:19 Stunden und damit deutlich unter der erhofften Marke von 22 Stunden.
Ich bin sehr froh und dankbar, alle drei von mir für das erste Halbjahr anvisierten langen Läufe über mindestens 100 Meilen (JUNUT 239, Bremen – Sankt Pauli, thüringenULTRA) gefinished zu haben. Als ich im Winter oft etwas kränkelnd und im März noch leicht verletzt einen wichtigen Vorbereitungslauf absagen musste, konnte ich davon nur träumen. Umso schöner nun, dass mir dabei so viele nette Menschen begegneten und ich insgesamt gesund geblieben bin.
Nun erstmal die heißen Sommertage zur Regeneration nutzen, bevor dann höchstwahrscheinlich im September in Kandel wieder gilt: one more loop!